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Writer's pictureMatthias Mueller da Minusio

Romeo und Julia


Romeo und Julia sterben in Prag


Kunst ist in ihrer höchsten Ausformung zeitlos. Shakespeare gehört zweifelsohne zu

den Herausragenden der gesamten Kunstgeschichte. Wenn etwas den Wert von

Kunst aufzeigt, dann der Verlauf des Werks über längere Zeit. Wenn die

Erzeugnisse viele Jahre später noch interessieren und weiterleben, in welcher Form

auch immer, dann ist deren Exzellenz unbestreitbar.


Prokoview nahm sich Romeo und Julia, dem Liebesstoff schlechthin an und

komponierte dazu sein wichtigstes Ballet. Es war keine Zusammenarbeit mehr mit

dem kongenialen Diaghilew, sondern es war seine Absicht, dieses Ballett zu

realisieren. Die Uraufführung war dann auch nicht reibungslos, das Bolschoi-Ballett

lehnte es ab, es wurde in Brno uraufgeführt.


Ob sich ein Theaterklassiker, ein Werk der Sprachkunst, sich für die Übertragung in

ein Ballett eignet, soll hier nicht eingegangen werden. Der englische Altklassiker

verspricht natürlich per se Aufmerksamkeit bis heute. Mit den Themen Liebe und

Tod, kann man auf der grossen Bühne zudem auch nie falsch liegen. Aber gibt es

heute noch Familienfehden, die den Nachkommen bei der Heirat Probleme

bereiten? Ist das Duell heute noch zu thematisieren?


Ich finde es niedlich, wie die Theater ihre alten Schmöcker aktuellreden. Sexistische

Opernstoffe aus dem 19. Jahrhundert werden unhinterfragt als ewig zeitgemäss

erklärt. Das wäre im Theater unmöglich, da werden Inhalte ernst genommen und

umgedeutet resp. interpretiert. Opern und Ballette werden originalgetreu aufgeführt.

Kein kritischer Ton ist erlaubt.


Im Russland Prokoviews gab es noch Duelle als er 1935 den Ballettstoff wählte. Es

gibt sie noch heute, resp. Putin bringt um, wer ihm im Weg zu sein scheint. In

Deutschland wurde das Duell, das ja z.B. auch in der Oper Eugen Ognegin von

Tschaikowski zelebriert wird, 1872 verboten. Die Schweiz folgte wie immer verspätet

um 1937. Dass bei Romeo und Julia duelliert wird, dass es einem heute schlecht

wird, ist eine Tatsache. Ich bin an den letzten Tatort (Fernsehkrimi der deutschen

Anstalten) erinnert, wo am Schluss sich alle mit Schüssen hinstrecken. Die

Krimikultur zeigt, wie wir uns gerne der Spannung des Todeseintrittes anderer

ergötzen. Eine packende Story lässt sich am einfachsten damit auf die Bühne

bringen.


Bei Romeo und Julia ist das keine Spannung mehr – jeder weiss wie es ausgeht. Es

ist ein Tod der kulturellen Entgleisung und Dummheit, in die sich die Menschen

immer wieder verirren und mit denen die Aufklärung aufräumen wollte. Es ist auch

sehr weit gelungen: Es gibt keine (öffentlichen) Hinrichtungen mehr, die Folter ist

verboten, Duelle sollten sie stattfinden werden bei uns geahndet. Hoffentlich darf

flächendeckend die ganze Welt im Humanismus leben.


Wenn ich so mit Shakespeare konfrontiert werde, lese ich aber keinen Humanismus,

sondern das Erleichterungsgefühl, heute zu leben. Romeo und Julia als Geschichte

ist nicht zeitlos, es ist ziemlich überholt. Damit wäre nichts zur Dichtkunst

Shakespeares (die in der Ballettumsetzung nicht zur Geltung kommen kann) undseiner historischen Bedeutung gesagt – lediglich um den zum Glück in die Jahre

gekommenen Inhalt.


Was machte nun Prokoview daraus? Aus der Trias Strawinsky, der sich als

Weltbürger vom Sowjetreich früh zeitlebens absetzte, Schostakovich, der zeitlebens

mit dem Kommunismus haderte und es nicht schaffte auszuwandern, hatte der

Gutsherrensohn Prokoview, dem die Musik in die Wiege gelegt wurde, und nachdem

er 1918 wegen der Revolution floh, im Westen auch als Pianist beachtliche Erfolge

gefeiert. Alleine in den USA konnte er nicht Fuss fassen (sprach er etwa zuwenig

english?) Er kehrte zurück in die Diktatur Sowjetrussischer Prägung. Dort

komponierte er auch das Liebesdramaballett. Prokoviews musikalische Sprache

vagiert unentschlossen zwischen der Sehnsucht nach der funktionsharmonischen

Tonalität und eingestreuten Dissonanzen. Erstaunlich wie oft er sich in Romeo und

Julia aus seiner Symphonie classic sich selber zitiert. Rhythmisch ist das alles sehr

einfach und immer wieder fühlte ich mich in die Welt von Tschaikowsky

zurückversetzt. Die Dissonanzen sind dünn gesät, kommen zufällig, eher wie ein

Fremdkörper als eine bewusste tonsprachliche Intendierung vor. Das Resultat ist

unweigerlich ein Konglomerat ohne eindeutiges Gesicht. Der Gedanke des

kompositorischen Opportunisten liegt unweigerlich nahe.


Auch die dramaturgische Entwicklung wird dadurch verschenkt. Nummernartig wird

man unterhalten. Aber auch nur, wenn die Interpretation der heutigen Vorzüglichkeit

entspricht. Das Ballettorchester in Prag ist leider weit entfernt von heutiger

internationaler Exzellenz und die Routinedarbietung schockiert immer wieder mit

offensichtlichen Schwachpunkten.


Die klassische Choreografie des Stuttgarter Verdienstmannes John Cranko von

1962 hat Patina angesetzt und das Bühnenbild erinnert mich an meine Kinderjahre,

wo Opern auch in Basel mit Tannenbäumchen und vielem adligen Geplänkel

aufgeführt wurden, als sollten wir uns dingend wieder der Monarchie annähern. Dass

das Tanzensemble das Bestmögliche tut, rettet, was es noch zu retten gibt, erzeugt

lediglich Mitleid mit den vorzüglichen Tänzer:innen . Eine undankbare und

schwierige Aufgabe. Ein Betrieb versinkt in seiner Agonie und versucht zu

unterhalten, wo es gerade noch geht. Vielleicht sterben bald nicht nur alle

Protagonisten, sondern eine wirklich überkommene Kunstkultur der verweigerten

Innovation und Relevanz.


Matthias Mueller da Minusio

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