Romeo und Julia sterben in Prag
Kunst ist in ihrer höchsten Ausformung zeitlos. Shakespeare gehört zweifelsohne zu
den Herausragenden der gesamten Kunstgeschichte. Wenn etwas den Wert von
Kunst aufzeigt, dann der Verlauf des Werks über längere Zeit. Wenn die
Erzeugnisse viele Jahre später noch interessieren und weiterleben, in welcher Form
auch immer, dann ist deren Exzellenz unbestreitbar.
Prokoview nahm sich Romeo und Julia, dem Liebesstoff schlechthin an und
komponierte dazu sein wichtigstes Ballet. Es war keine Zusammenarbeit mehr mit
dem kongenialen Diaghilew, sondern es war seine Absicht, dieses Ballett zu
realisieren. Die Uraufführung war dann auch nicht reibungslos, das Bolschoi-Ballett
lehnte es ab, es wurde in Brno uraufgeführt.
Ob sich ein Theaterklassiker, ein Werk der Sprachkunst, sich für die Übertragung in
ein Ballett eignet, soll hier nicht eingegangen werden. Der englische Altklassiker
verspricht natürlich per se Aufmerksamkeit bis heute. Mit den Themen Liebe und
Tod, kann man auf der grossen Bühne zudem auch nie falsch liegen. Aber gibt es
heute noch Familienfehden, die den Nachkommen bei der Heirat Probleme
bereiten? Ist das Duell heute noch zu thematisieren?
Ich finde es niedlich, wie die Theater ihre alten Schmöcker aktuellreden. Sexistische
Opernstoffe aus dem 19. Jahrhundert werden unhinterfragt als ewig zeitgemäss
erklärt. Das wäre im Theater unmöglich, da werden Inhalte ernst genommen und
umgedeutet resp. interpretiert. Opern und Ballette werden originalgetreu aufgeführt.
Kein kritischer Ton ist erlaubt.
Im Russland Prokoviews gab es noch Duelle als er 1935 den Ballettstoff wählte. Es
gibt sie noch heute, resp. Putin bringt um, wer ihm im Weg zu sein scheint. In
Deutschland wurde das Duell, das ja z.B. auch in der Oper Eugen Ognegin von
Tschaikowski zelebriert wird, 1872 verboten. Die Schweiz folgte wie immer verspätet
um 1937. Dass bei Romeo und Julia duelliert wird, dass es einem heute schlecht
wird, ist eine Tatsache. Ich bin an den letzten Tatort (Fernsehkrimi der deutschen
Anstalten) erinnert, wo am Schluss sich alle mit Schüssen hinstrecken. Die
Krimikultur zeigt, wie wir uns gerne der Spannung des Todeseintrittes anderer
ergötzen. Eine packende Story lässt sich am einfachsten damit auf die Bühne
bringen.
Bei Romeo und Julia ist das keine Spannung mehr – jeder weiss wie es ausgeht. Es
ist ein Tod der kulturellen Entgleisung und Dummheit, in die sich die Menschen
immer wieder verirren und mit denen die Aufklärung aufräumen wollte. Es ist auch
sehr weit gelungen: Es gibt keine (öffentlichen) Hinrichtungen mehr, die Folter ist
verboten, Duelle sollten sie stattfinden werden bei uns geahndet. Hoffentlich darf
flächendeckend die ganze Welt im Humanismus leben.
Wenn ich so mit Shakespeare konfrontiert werde, lese ich aber keinen Humanismus,
sondern das Erleichterungsgefühl, heute zu leben. Romeo und Julia als Geschichte
ist nicht zeitlos, es ist ziemlich überholt. Damit wäre nichts zur Dichtkunst
Shakespeares (die in der Ballettumsetzung nicht zur Geltung kommen kann) undseiner historischen Bedeutung gesagt – lediglich um den zum Glück in die Jahre
gekommenen Inhalt.
Was machte nun Prokoview daraus? Aus der Trias Strawinsky, der sich als
Weltbürger vom Sowjetreich früh zeitlebens absetzte, Schostakovich, der zeitlebens
mit dem Kommunismus haderte und es nicht schaffte auszuwandern, hatte der
Gutsherrensohn Prokoview, dem die Musik in die Wiege gelegt wurde, und nachdem
er 1918 wegen der Revolution floh, im Westen auch als Pianist beachtliche Erfolge
gefeiert. Alleine in den USA konnte er nicht Fuss fassen (sprach er etwa zuwenig
english?) Er kehrte zurück in die Diktatur Sowjetrussischer Prägung. Dort
komponierte er auch das Liebesdramaballett. Prokoviews musikalische Sprache
vagiert unentschlossen zwischen der Sehnsucht nach der funktionsharmonischen
Tonalität und eingestreuten Dissonanzen. Erstaunlich wie oft er sich in Romeo und
Julia aus seiner Symphonie classic sich selber zitiert. Rhythmisch ist das alles sehr
einfach und immer wieder fühlte ich mich in die Welt von Tschaikowsky
zurückversetzt. Die Dissonanzen sind dünn gesät, kommen zufällig, eher wie ein
Fremdkörper als eine bewusste tonsprachliche Intendierung vor. Das Resultat ist
unweigerlich ein Konglomerat ohne eindeutiges Gesicht. Der Gedanke des
kompositorischen Opportunisten liegt unweigerlich nahe.
Auch die dramaturgische Entwicklung wird dadurch verschenkt. Nummernartig wird
man unterhalten. Aber auch nur, wenn die Interpretation der heutigen Vorzüglichkeit
entspricht. Das Ballettorchester in Prag ist leider weit entfernt von heutiger
internationaler Exzellenz und die Routinedarbietung schockiert immer wieder mit
offensichtlichen Schwachpunkten.
Die klassische Choreografie des Stuttgarter Verdienstmannes John Cranko von
1962 hat Patina angesetzt und das Bühnenbild erinnert mich an meine Kinderjahre,
wo Opern auch in Basel mit Tannenbäumchen und vielem adligen Geplänkel
aufgeführt wurden, als sollten wir uns dingend wieder der Monarchie annähern. Dass
das Tanzensemble das Bestmögliche tut, rettet, was es noch zu retten gibt, erzeugt
lediglich Mitleid mit den vorzüglichen Tänzer:innen . Eine undankbare und
schwierige Aufgabe. Ein Betrieb versinkt in seiner Agonie und versucht zu
unterhalten, wo es gerade noch geht. Vielleicht sterben bald nicht nur alle
Protagonisten, sondern eine wirklich überkommene Kunstkultur der verweigerten
Innovation und Relevanz.
Matthias Mueller da Minusio
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