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Writer's pictureMatthias Mueller da Minusio

Die Fluidität der Künste sucht ihre Räume

Gibt es unüberbrückbare Grenzen? Besteht nicht alles Separierende aus permeablen Membranen, die zwar abgrenzen, aber nicht eine vollkommene Trennung schaffen? Unser Körper braucht Grenzen (z.B. Hirnblutschranke) und unser soziales und politisches Leben ist ein vielschichtiges System von Systemen (Luhmann) , ein dionysisches Wirrwarr an buntem Leben voller Reibungsflächen und unweigerlich auch Konflikten. Betrachten kann man immer zwei Seiten: 1. Ich fokussiere mich auf ein (unvollkommen) abgegrenztes System oder 2. ich betrachte die durchlässigen Membran- und Grenzregionen.


Zur Zeit beschäftigen uns die Grenzen mehr. Politisch: Die grossen Weltprobleme wie Klimaveränderung und Friede kann nur in internationalen Gemeinschaften gelöst werden – die Nationen als autarke Gebilde (wie im 19. Jahrhundert etabliert) sind eine Chimäre. Der Nationalismus ist heute nur billige Wähleranbindung. Sozial: Zum Glück sind jegliche Kastensysteme in Westeuropa Geschichte. Nicht dass paradiesische Zustände herrschen, aber unser Schulsystem (insbesondere in der Schweiz) ermöglicht soziale Chancengleichheit in erstaunlichem Masse. 3. Biologisch: Kaum eine Frage erhitzt derart die Gemüter, wie die Geschlechterfrage. Auf einen Schlag wurde die Dichotomie in Mann und Frau von betroffenen Grenzgänger:innen in Frage gestellt. Die Rechte und die religiösen Ordnungshüter tun sich schwer, dass ihr durch Stabilitätsbedürfnis getränkte starre und nostalgische Weltbild woke aufgeweckt wird und erzittert. Woke, ein Begriff für soziale Gerechtigkeit aus den USA von 1930, der nun ins Absurde verzerrt wird und zum Schimpfwort der Rechten auch hierzulande verkam. Die Linke wähnt sich wie immer als einzige Heilsbringerin und doktrinär wird jedes unwoke Verhalten jenseits ihres Sinnes moralisch abgestraft und darf kaum mehr diskutiert werden. Es gibt heute einen weltweiten innergesellschaftlichen clash of civilisation, der mal heftiger und mal sanfter vorgetragen wird.


Wie positionieren sich hier die Künste? Im 19. Jahrhundert war die Kunst (den sich bildenden Nationen vergleichbar) deutlich in einzelne Künste geteilt. Ebenso die Wissenschaften: Physik und Chemie waren zum Beispiel getrennte Wissensgebiete. Erst die geistige Revolution im fin de siècle führte zur Aufwühlung der säuberlich abgegrenzten Fachrichtungen. Ein Blick in die Geschichte ist hierzu erhellend.


Eine Kunst blühte im Novecento ganz speziell auf: Die Komposition! Noch von Kant und Hegel degradiert, wurde die unsemantische Tonsetzung plötzlich zum Idealträger des aufblühenden individuellen emotionalen Ausdruckes. Die vormals suspekte emotionale Sentimentalität wurde salonfähig. Die absolute Musik auf dem Fundament der Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven wurde zum Hoffnungsträger der reinen Klangkunst, die in der Romantik den Wissenschaften und der Religion kurzfristig den Rang ablief. Schopenhauer legte das philosophische Fundament auf dem Schumann, Chopin, Liszt, Mendelssohn, Verdi über Brahms, Bruckner bis Puccini und Strauss etc. zu ihren Höhenflügen ansetzen konnten. Ein Kulturgut, das bis heute das Fundament der ungeschickt als klassisch bezeichnete Musik darstellt. Es ist der Ausdruck des post-aristokratischen Liberalismus und des klassischen Bildungsbürgertums, das es heute so nicht mehr gibt.


Bereits im 19. Jahrhundert wurde das aufrührerische Elemente der Aufhebung der säuberlichen Trennung in Kunst- und Wissensgebiete erodiert. Es ist das Phänomen Richard Wagner, das hier ganz spezieller Betrachtung bedarf. Wagner war das neunte Kind eines Polizeiaktuars. Es war alles andere als vorgezeichnet, dass er zu einem Künstler wurde, der über die Musik hinaus das Kulturleben von Europa entscheidend mitprägte - bis heute. Es herrscht gerade eine Wagnermania. Erstaunlich weil er in seinen Schriften prekär politically incorrect fabulierte. Auch wie er Nietzsche ausnützte, war kein Ruhmesblatt. Er war ebenso Revolutionär, Dichter, Kunstästhetiker und Kulturpolitiker wie Komponist. Sein Gesamtkunstwerk kann nur als Gesamtschau jenseits der Genregrenzen erfasst werden. Er wurde zur Verkörperung des romantischen Genies, das bewirkt, dass die Religion durch die Kunst ersetzt wird, wie das Nietzsche, auf Schopenhauer folgend selber gelebt und verkörpert hat. Die Faszination dessen kann bis zu Thomas Manns Doktor Faustus und Stockhausen als Verkörperung des Kunstgenies verfolgt werden. Wagner war Pragmatist und ein Macher, ob er den 31 Jahre jüngeren Dichterphilosophen ideell ausgesaugt, vielleicht gar missbraucht hat, sei dahin gestellt. Nietzsche selber autodidaktisch und amateurhaft komponierend wurde zum Wegbereiter der 20. Jahrhunderts und ebenso prägend wie der Erschaffer von Opernwerken, die heute noch in Opernhäusern nicht weg zu denken sind. Mit Bayreuth schuf er zudem einen Hügel, der ebenso problematisch wie faszinierend dem Teutonischen ein unverkennbares Denkmal setzte.


Die Oper ist das künstlerische Genre der vereinten Künste. Sie begann um 1600 mit einem Irrtum, weil sie die griechische Trägödie dem Renaissancegedanken entsprechend wiederbelebte. Sie unterlag dann auch einer schemenhaften Standardisierung, die von Mozart gegen die Gluckisten etwas aufgebrochen, von von Weber ins Deutsche übertragen wurden und dann eben bei Wagner die Verbindung mit dem Ewigmythischen eingingen. Aber die Grand Opéra blieb trotz allen Eigenheiten in einer festen Form gefangen, mit handelnden Solosänger:innen, einer Guckkastenbühne mit Bühnenbild und ein in den Orchestergraben verbanntem Orchester, das bei Wagner nicht einmal mehr sichtbar ist. Gustav Mahler, zeitlebens bekannt als Kapellmeister und Operndirektor an der Donau, revolutionierte das Bühnenbild mit Alfred Roller und die Regie in genialischer Personalunion.


Erste Ausbrüche lieferten die Krise des ersten Weltkrieges, in der Strawinsky L’histoire du soldat komponierte und Schönberg Pierrot lunaire. Beides Kurzwerke in Kammerbesetzung, die neue Konstellationen schufen und experimentell Neuheiten pröbelten. Die Antipoden wurden für das ganze Jahrhundert bestimmend. Der grosse Aufbruch kam nach den mörderischen Weltkriegen in den 50er und v.a. 60er Jahren und wuchsen aus zur Eruption, die auf dem Dada-Impuls von 1916 aus Zürich aufbauend, in wildesten Variationen die Künste aufeinanderprallen liessen und dem modernen Credo Rimbauds frönten, il faut être absolument moderne. Dem Experimentellen wurde der Boden gelegt, auf dem die Nichteingeweihten keinen Halt mehr fanden und die Kunst in die abgeschlossene Esoterik zu driften drohte.


Die 60er Jahre waren wild in jeder Hinsicht und mündeten 1968 in die Studentenunruhen und kulturellen Verwerfungen, denen die laue vielerorts kritisierte Postmoderne folgte. Paradigmatisch wurde mit der Performance im Kunstmuseum eine neue Kunstgattung geschaffen, die mit ursprünglich ausgestellten Bildern und Skulpturen nichts mehr zu tun hat. Abramovics Wirken im Moma 2012 in New York ist legendär – die neue Kunstgattung wurde vollends geadelt und in den Kreis der Künste aufgenommen.


In einer seiner letzten Reden Die Kunst und die Künste hatte Adorno 1966 die Verfransung der Künste konstatiert. Die Fransen bei Teppichen zeigen sowohl die Aufweichung, wie aber auch die Zerstörung des Intakten und Adornos Wortwahl unterstreicht sein Markenzeichen der Kulturnostalgie und negativen Bewertung der Erneuerungen, die die Klassik der Moderne aufzuweichen begannen. Negativ ansehen muss man den Impuls, die Künste neu auf sich zu beziehen und sich zu verbinden, in keiner Weise. Das der Unterhaltungsabteilung zuzuordnende und beliebte Musical sei hier erwähnt, das das Gesamtkunstwerk Oper neu ausgestaltete und z.B. den Tanz zum prägenden Element machte. Im Gesamten wurde die U-Oper (der Operette verwandt) von der Qualität der Gershwinbrüder und Bernstein am legendären Broadway abgelöst von weltumspannenden Produktionsunternehmen, die Geldmaschinerien mit dem Immergleichen wurden zum Phantom of the Opera. Die künstlerische Relevanz blieb immer mehr auf der Strecke und dem schnöden Mammon geopfert.


Das Medium schlechthin des 20. Jahrhunderts und bis heute ist der Film, der per se kunstübergreifend ist und nicht überraschend, zum Platzhalter der Opernfaszination des 19. Jahrhunderts wurde und nur das Musical konnte dieser Anziehung und Popularität der kombinierten Künste, einen Teil für sich beanspruchen. Es ist evident: Wir Menschen wollen keine separierten Eigenwelten, sondern Kunst sehen, hören und körperlich erfahren, die unsere alle Sinne bedient und die Komplexität unserer eigenen Existenz widerspiegelt. Eine Bestätigung erfährt das hierhin, dass die kultigen Rock-Popkonzerte nun zu multimedialen Shows geworden sind und sich weit davon entfernt haben, Konzerte von Musiker:innen mit Stimme, Gitarren, Saxophonen grundiert von Bassdrum Section zu sein.


Fast von hinten wurden die Künste nun auch noch von der Digitalisierung überrannt. Das Musikbusiness und -leben fiel wie ein Kartenhaus zusammen, es wird gestreamt was das Zeug hält. Aber alle Kunstformen wurden digitalisiert einer Metamorphose unterzogen. Wenn man an die Möglichkeiten von heute denkt, dann wird Benjamins Kunstwerk jenseits der Reproduzierbarkeit zum Mitleid erheischenden längst torpedierten Textes. Die Originalität und alle Parameter der Kunst sind in Frage gestellt, alles beginnt zu fliessen. Jeglicher Halt ist verloren gegangen, was Kunst nun sei und wie sie einzuordnen ist. Die AI – in aller v.a. dystopischen Munde – schlägt hier gerade ein neues Kapitel auf. In der entwickelten Kunst wird es kaum etwas bringen, da der individuelle und persönliche Gedanke geprägt von Spontaneität und Überraschung die Kunst nährt, der die maschinelle Entwicklung durch programmiert lernende Algorithmen, entgegen steht.


Sicher ist, dass sowohl die Künste in ihrer Reinkultur weiterleben werden, wie aber auch die Durchdringung derer untereinander, Arbeitsfelder sein werden. Das Pendel schlägt nun dabei sicher zum zweiten und dafür braucht es hauptsächlich geeignete Räume. Die Opernbühne ist nicht mehr der Ort, wie es das klassichen Austellungsmuseum nicht mehr ist und auch der Konzertort mit seinen goldigen Girlanden nicht mehr bieten kann. Die Bedürfnisse an Räume, die die Fluidität der Künste erlauben, hat sich nun seit einiger Zeit abgezeichnet. Es ist ein neutraler Raum, der den Bedürfnissen angepasst werden kann und dem Angestrebten und Beabsichtigten gemäss moduliert werden kann. Die salle modulabile wurde in Luzern fast gebaut und nur auf der Zielgeraden unglücklich zu Fall gebracht. An Universitäten gibt es solche Räume (ZHDK). Geschaffen werden sollten nun sala modulares, modulable halls, die der Neuorientierung der Kunstwege mit allen ihren Kreuzungen und Parallelisierungen Raum geben und das momentane Stocken der Kunstentwicklung wieder neu zum Fliessen bringen können. Gefordert ist nun zuerst die Architektur, die Räume schaffen muss, die der Kunst der vereinten Künste die Möglichkeit für deren Entfaltung liefert.


Matthias Mueller da Minusio 20.8.2023


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